Weniger Mädchen in der Umgebung von Atomkraftwerken
In der Umgebung von Atomkraftwerken kommen in Deutschland und der Schweiz weniger Mädchen auf die Welt. Das geht aus einer im Oktober 2010 veröffentlichten wissenschaftlichen Studie von Ralf Kusmierz, Kristina Voigt und Hagen Scherb hervor. In den letzten 40 Jahren haben Mütter, die in Deutschland und in der Schweiz im Umkreis von 35 km einer der untersuchten 31 Atomanlagen leben, bis zu 15.000 Kinder weniger geboren als durchschnittlich zu erwarten gewesen wäre, die Mehrzahl davon Mädchen. Für die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW untermauert diese Studie den ursächlichen Zusammenhang von radioaktiver Strahlung und einer Schädigung von Zellen – insbesondere bei Embryonen.
Die Kinderkrebsstudie hatte schon 2007 ein erhöhtes Krebs- und Leukämie-Erkrankungsrisiko bei Kleinkindern im AKW-Nahbereich in Deutschland nachgewiesen.
Der Verlust von Mädchen-Schwangerschaften weist auf eine Schädigung des Erbguts durch die ionisierende Strahlung hin, die von Atomkraftwerken in die Umgebung abgegeben wird. Vergleichbare hochsignifikante Effekte wurden bereits nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sowie in der Folge von Atombombenversuchen beobachtet. Nach Tschernobyl kam es in Europa nicht nur zu einer erhöhten Zahl von Totgeburten und Fehlbildungen, sondern auch zu einer Verschiebung des Verhältnisses von männlichen und weiblichen Embryonen: Nach 1986 wurden in Europa signifikant weniger Mädchen geboren.
Atomkraftwerke geben auch im Normalbetrieb radioaktive Isotope, z.B. überschweren Wasserstoff (H 3, Tritium) und radioaktiven Kohlenstoff (C 14) in die Umgebung ab, die vom menschlichen Körper unbemerkt aufgenommen werden und „innere“ Strahlung verursachen. Bei Brennelementwechseln, Störfällen und Schnellabschaltungen sind diese Vorgänge gesteigert. Selbst wenn „erlaubte“ Grenzwerte dabei nicht überschritten werden, sind ungeborene Kinder offensichtlich in Gefahr. Die Regelwerke für diese Grenzwerte sind veraltet und unterschätzen das wahre Risiko.
„Die jüngsten Ergebnisse der fehlenden Mädchengeburten alarmieren genau so wie die Ergebnisse der Kinderkrebsstudie“, sagt Reinhold Thiel, Mitglied des Vorstandes der IPPNW Deutschland. „Es ist bekannt, dass radioaktive Nuklide auch schon im Niedrigstrahlungsbereich Keimzellen, Embryonen und Stammzellen durch ionisierende Strahlung extrem gefährden. Vermutlich reagieren weibliche Embryonen auf radioaktive Strahlung empfindlicher als männliche. Von einer Schädigung tausender männlicher Embryonen ist jedoch zusätzlich auszugehen“, erklärt IPPNW-Kinderarzt Dr. Winfrid Eisenberg.
Die IPPNW Deutschland fordert die Bundesregierung auf, diese Gefährdung zu verringern. Um der Strahlenempfindlichkeit von Embryonen und Kleinkindern Rechnung zu tragen, müssen sich Strahlenschutzstandards und Grenzwerte nicht an einem gesunden, jungen Mann (Reference Man), sondern am extrem strahlensensiblen Embryo (Reference Embryo) orientieren.
- Eine Zusammenfassung der Studie von Kusmierz, Voigt und Scherb „Is the human sex odds at birth distorted in the vicinity of nuclear facilities?“ finden Sie unter http://ibb.helmholtz-muenchen.de/homepage/hagen.scherb/KusmierzVoigtScherbEnviroInfoBonn2010.pdf
- Die Kinderkrebsstudie ist hier abrufbar http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/bfs_KiKK-Studie.pdf, der Artikel zu den verlorenen Kindern nach Tschernobyl und den Atomwaffentests von Hagen Scherb unter http://www.strahlentelex.de/Stx_10_558_S01-04.pdf
Quelle: IPPNW.de, 23.11.2010