Weniger Geburten rund um AKW
In der Umgebung von AKW kommen in Deutschland und in der Schweiz Tausende Kinder zu wenig zur Welt. Kommen radioaktive Emissionen aus Atomanlagen als Ursache in Frage?
Die PSR / IPPNW Schweiz – Ärztinnen und Ärzte für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges – machen darauf aufmerksam, dass das Verhältnis von Knaben- zu Mädchengeburten in der Umgebung von Atomkraftwerken gestört ist. Dies weist eine im Oktober 2010 veröffentlichte epidemiologische Studie aus München nach. Diese Beobachtung lässt ein Defizit von Lebendgeburten in AKW-Umgebung errechnen. Frauen, die in Deutschland oder der Schweiz im Umkreis von 35 km einer der untersuchten 31 Atomanlagen leben, haben demzufolge in den letzten 40 Jahren gemäss Einschätzung der Studienautoren näherungsweise 15 000 Kinder – vor allem Mädchen – verloren. Dieser Zusammenhang wurde jetzt erstmals bei Atomkraftwerken im Normalbetrieb nachgewiesen und ist hochsignifikant. Ob der Verlust der Schwangerschaften im Sinne einer Schädigung des Erbguts durch die radioaktiven Emissionen aus Atomkraftwerken interpretiert werden muss, ist dringend zu klären.
Anlass für die Studie waren entsprechende Beobachtungen nach den Atombombentesten und der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 sowie die bei der deutschen Kinderkrebsstudie KiKK festgestellte Abhängigkeit der Krebsraten vom Abstand von Atomkraftwerken. Die Autoren vermuten daher als Ursache die von Atomkraftwerken auch im Normalbetrieb – insbesondere beim Brennelemente-Wechsel – an die Luft abgegebenen radioaktiven Emissionen. Die Studienresultate signalisieren die Möglichkeit ernsthafter Schädigungen im frühen Schwangerschaftsverlauf, selbst bei sehr niedrigen Strahlendosen. Es ist bekannt, dass Keimzellen, Embryonen und Stammzellen extrem strahlenempfindlich sind. Jegliche Strahlendosis gilt als gefährlich – es gibt keinen Schwellenwert, unter welchem kein Risiko besteht.
- Die Besorgnis über diese neuesten Befunde ist umso begründeter, da mehr als ein Drittel aller Geburten in der Schweiz Mütter betrifft, die im Umkreis von bis zu 35 km von der nächsten Atomanlage wohnen.
Die PSR / IPPNW Schweiz, der über 600 Ärztinnen und Ärzte angehören, fordern seitens der Behörden eine rasche Überprüfung der Studiengrundlagen und der Ergebnisse von Kusmierz, Voigt und Scherb, insbesondere der Resultate der am meisten belasteten Region von Beznau, Kt. Aargau. Angesichts der hervorragenden Qualität der Daten des Bundesamtes für Statistik dürfte eine fokussierte erste Überprüfung gemäss Einschätzung der Studienautoren nur wenige Wochen in Anspruch nehmen.
Die PSR / IPPNW Schweiz ersuchen ferner das Bundesamt für Gesundheit (BAG), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) und der Eidgenössischen Kommission für Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität (KSR) bis zum 30. Juni 2011 zu dieser Mitteilung über das gestörte Zahlenverhältnis (´Sex Odds´) von Knabengeburten zu Mädchengeburten in der Umgebung von Atomkraftwerken Stellung zu nehmen.
Schliesslich regen die PSR / IPPNW Schweiz an, dass das BAG, in Zusammenarbeit mit den erwähnten Institutionen und dem Schweizerischen Nationalfonds eine umfassende, insbesondere auch die meteorologischen Verhältnisse einbeziehende, unabhängige, transparente und der Öffentlichkeit zugängliche Überprüfung der Sex Odds der Lebendgeburten analog der Studie von Kusmierz, Voigt und Scherb vornimmt und einen Massnahmenkatalog zuhanden der Bevölkerung erstellt, sollten sich die Befunde einer verschobenen Sex Odds Ratio in der Umgebung von Atomkraftwerken bestätigen.
- Das Wissensmagazin des Schweizer Fernsehens Einstein (SF TV1, heute Do. 02.12.10, 21 00h) widmet sich der zitierten, neuen Studie zu den fehlenden Geburten in der Umgebung von Atomanlagen und dem Thema der radioaktiven Emissionen aus Atomkraftwerken sowie den gehäuften Kinderkrebsfällen in der Nähe von AKW.
Quelle: IPPNW, 02.12.2010