Ein möglicher Riss im AKW Grafenrheinfeld: Die offizielle Geschichte und ein bisschen mehr
Im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld wurde während der Revision 2010 (März 2010 bis Juni 2010) ein „Thermoschutzrohr“ im Rahmen einer wiederkehrenden Prüfung untersucht. Dabei wurden Risse entdeckt. Mit Stand 10.2.2011 beschreibt Rudi Amannsberger die Situation und zieht ein Fazit: Ökonomie geht vor Sicherheit!
1. Die offizielle Geschichte
Während der Revision 2010 (die vom März 2010 bis Juni 2010 dauerte) wurde ein „Thermoschutzrohr“ im Rahmen einer wiederkehrenden Prüfung untersucht. Dabei wurde mit einer Ultraschallprüfung das Rohr von außen, ohne dass es ausgebaut wurde, auf seinen Zustand überprüft. Das betreffende Rohr wurde zuletzt 2001 untersucht. Bereits im Jahr 2001 Jahren gab es einen kleinen Befund. Dieser Befund war nun bei der Untersuchung 2010 größer. Im Jahr 2001 lag dieser Befund noch unter einer Registrierschwelle, im Jahr 2010 lag er über der Registrierschwelle. Diese Registrierschwelle wird in den sicherheitstechnischen Regeln des Kerntechnischen Ausschusses (KTA-Regeln) festgelegt.
- Das Ergebnis ist also registrierpflichtig gewesen, und war damit auch bewertungspflichtig.
Nach offizieller Darstellung ist das positive Prüfergebnis zunächst mit geringfügig geänderten Prüfparametern, bzw. einem neuen Messgerät, erklärt worden. Später hat man auch eine Rissanzeige nicht mehr ausgeschlossen, jedoch war man sich angeblich sicher, dass selbst ein Riss ungefährlich sei. Der Riss könne, bei einem Rohr mit einer Wandstärke von 38 mm, maximal 2,7 mm betragen. Der Riss würde – wenn er denn einer sei – nur langsam wachsen. In der Bewertung waren sich E.ON, TÜV Süd und Bayerische Atomaufsicht wohl schnell und noch vor Ende der Revision einig, dass es sich hierbei um kein meldepflichtiges Ereignis handle.
- E.ON, TÜV-Süd und die Bayerische Atomaufsicht waren sich außerdem darin einig, dass es vollkommen ausreichen würde, das Rohrstück bei der Revision 2012 nochmals zu überprüfen.
- Oder in den Worten des Bayerischen Umweltministeriums: Grafenrheinfeld war und ist immer sicher!
Damit schien die Geschichte abgeschlossen.
2. Hintergrund: technisch
Das auffällige Messergebnis war an einem Rohr im Innenbereich des Reaktors, innerhalb der Druckführenden Umschließung (DFU) aufgetreten, die den Hauptkühlkreislauf mit dem Druckbehälter verbindet. Ein Bruch dieser Leitung würde zu einem schweren Kühlmittelaustritt führen und könnte damit einen in Deutschland noch nie dagewesenen Störfall der Stufe 3 auslösen.
- Bedenklich ist vor allem die mangelnde Sicherheitskultur, die sich bei diesem Vorfall erneut offenbart hat:
- Ein registrierungspflichtiger Befund wurde zunächst als Ergebnis wechselnder Messverfahren interpretiert und verharmlost
Im zweiten Schritt wurde ein Riss zwar nicht mehr ausgeschlossen, jedoch wurden auch keine weiteren Untersuchungen durchgeführt, um zu prüfen, ob es sich tatsächlich um einen Riss handelt.
Obwohl ein Riss nicht mehr ausgeschlossen werden konnte, wurde die mögliche Ursache eines Risses nicht erforscht.
Da die Ursache einer möglichen Rissbildung nicht geklärt ist, sind Aussagen über ein stetiges, langsames Risswachstum nicht gesichert.
Ein kurzfristiges Risswachstum innerhalb weniger Wochen kann nicht seriös ausgeschlossen werden.
Und obwohl ein Riss in diesem sensiblen Bereich nicht ausgeschlossen ist und die Ursachen eines Risses nicht bekannt sind, wird der Weiterbetrieb, ohne Austausch des Rohres, gestattet. Eine Meldung findet nicht statt.
3. Hintergrund: ökonomisch
Die Revision 2010 war die längste und umfangreichste Revision in der Geschichte Grafenrheinfelds. Bei dieser Revision wurde unter anderem die Leittechnik erneuert bzw. digitalisiert. Diese Revision musste mehrfach verlängert werden und dauerte schließlich ca. vier Wochen länger als ursprünglich geplant. Während der Revision wurden vier meldepflichtige Ereignisse angezeigt. Massive Probleme gab es bei der Reinigung der Rohre, die im Rahmen dieser Revision durchgeführt wurde. Dabei kam es zu einer so weiträumigen Verteilung von radioaktiven Verunreinigungen im Leitungssystem, dass die Reinigung noch einmal wiederholt werden musste. Dies war vermutlich der Hauptgrund für die immense Zeitverzögerung.
Es ist mittlerweile gesichert, dass die „Ultraschallanzeige“ in den Tagen der schon mehrfach verlängerten Revision festgestellt wurde. Eine Überschreitung des „Befundgrenzwertes“ hätte logischerweise eine genaue Untersuchung, vor allem eine Feststellung der Ursache zur Konsequenz haben müssen. Dazu hätte ein Austausch der Leitung erfolgen müssen, was den Stillstand möglicherweise weiter verlängert und die finanziellen Einbussen von E.ON weiter erhöht hätte. Es ist bis heute nicht bekannt, innerhalb welcher Zeit ein Ersatzrohr zur Verfügung gestanden hätte, bzw. mit welcher Lieferzeit der AKW-Betreiber damals kalkuliert hat.
4. Hintergrund: politisch
In diesen Wochen im Juni 2010 wurde das Thema „Risse in AKW-Leitungen“ in der Öffentlichkeit breit diskutiert – vor allem angesichts eines Gutachtens über Rissbildungen in den Siedewasserreaktoren der Baulinie 69, am Beispiel Isar 1. Eine zusätzliche Diskussion über Risse in Druckwasserreaktoren wäre den AKW-Betreibern politisch alles andere als gelegen gekommen.
Außerdem wollten die Atomkonzerne und die Bundesregierung just zu dieser Zeit die Laufzeitverlängerung innerhalb nur weniger Monate durchsetzen. Eine Sicherheitsdebatte zwei Monate vor Abschluss des Atomdeals wäre also den Vertragspartnern höchst ungelegen gekommen.
5. Der ungewöhnliche Fortgang der Geschichte
Obwohl es sich nach Ansicht von E.ON, TÜV und Bayerischem Umweltministerium um kein meldepflichtiges Ereignis handelte, war der Befund am 15. September 2010 Thema bei der Sitzung des Ausschusses „Druckführende Komponenten und Werkstoffe“ der vom Bundesumweltministeriums als Beratungsgremium eingerichteten Reaktorsicherheits-kommission (RSK).
- Schon im August hatte das Bundesumweltministerium (BMU), nachdem es „Wind“ von der Sache bekommen hatte, bei der Bayerischen Atomaufsicht nachgefragt.
- In der RSK-Ausschusssitzung rückten Betreiber und Gutachter nur mit wenigen weiteren Informationen heraus:
- Messungen des TÜV an einem baugleichen Vergleichskörper hatten keine gleichartigen Fehler angezeigt, womit der Hinweis auf eine betriebsbedingte Entstehung erhärtet wurde.
- Das AKW Grafenrheinfeld wurde im Lastfolgebetrieb gefahren.
In der nachfolgenden Diskussion ergaben sich weitere Neuigkeiten:
- Nach Ansicht von Ausschussmitgliedern ist die sicherheitstechnische Bewertung des TÜV mit Unsicherheiten behaftet.
- Nach dem KTA-Regelwerk sind für die Prüfintervalle 4 bis 5 Jahre vorgegeben.
Es gab einen gleichartigen Befund bei der schweizerischen Anlage Gösgen (gleiche Bauart wie Grafenrheinfeld). Nach Heraustrennen eines Bauteils im Jahre 2005 habe sich nach einer metallographischen Untersuchung ein Riss gebildet, der betrieblich entstanden und gewachsen war. Die Schadensursache sei bis heute nicht eindeutig geklärt.
Die Debatte im Ausschuss Druckführende Komponenten und Werkstoffe beunruhigte nun anscheinend auch das Bundesumweltministerium und führte zu Nachfragen bei den bayerischen Kollegen. Im Dezember musste das Bayerische Umweltministerium so beim BMU vorsprechen. Am 15. Dezember befasste sich der Ausschuss Druckführende Komponenten und Werkstoffe der Reaktorsicherheitskommission erneut mit der Angelegenheit. Am 16. Dezember 2010 schaltete sich auf Wunsch des BMU sogar die Reaktorsicherheitskommission selbst ein – für ein angeblich nicht meldepflichtiges Ereignis eine recht intensive Beratung!
Am Tag vor der zweiten Beratung im Fachausschuss der Reaktorkommission, also am 14. Dezember kam es kurzfristig zu einem Gespräch zwischen der Bayerischen Atomaufsicht und dem Betreiber. Ergebnis dieses Gesprächs war unter anderem, dass das Rohr nun nicht erst 2012 erneut untersucht werden soll, sondern bereits im März 2011 ausgetauscht wird. Bis heute ist nicht bekannt, ob dies von der Bayerischen Atomaufsicht angeordnet wurde, oder ob es der Betreiber angeboten hat, um einer möglichen Weisung des Bundesumweltministeriums zuvorzukommen.
Am 16. Dezember meldete der Betreiber den Vorgang verspätet als meldepflichtiges Ereignis beim Bayerischen Umweltministerium. Mit einer kryptischen Pressemitteilung gab der Betreiber dies Tage später – aber wenige Stunden bevor sich die Pressesprecherin von EON in den Weihnachtsurlaub verabschiedet – bekannt. Als Ereignisdatum nannte der Betreiber kurioserweise den 16.12.2010 um 17.00 Uhr. Eine Begründung für dieses seltsame Ereignisdatum ist bis heute nicht bekannt.
Das Bayerische Umweltministerium veröffentlichte anschließend die Meldung im Internet. Es verschwieg aber die vom Betreiber angegebene und vermutete Ursache und veröffentlicht die Meldung unter einer anderen Überschrift als der Betreiber:
Bayerisches Umweltministerium: „Ultraschallanzeige an der Volumenausgleichsleitung am Verrundungsbereich des Thermoschutzrohres“.
Meldung des Betreibers: „Nicht auszuschließende thermische Ermüdung an der Volumenausgleichsleitung am Verrundungsbereich des Thermoschutzrohres“.
Im Januar, nach der Veröffentlichung in verschiedenen Medien teilte das BMU mit, dass es eine „Weiterleitungsnachricht“ durch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) geben werde. D.h. der Vorfall wird nunmehr als so bedeutend eingestuft, dass auch andere Betreiber und Aufsichtsbehörden nach vergleichbaren Vorkommnissen in ihren Anlagen fahnden sollen.
6. Fazit
Der Hinweis auf einen möglichen Riss im Innenbereich eines Atomkraftwerks mit nicht wirklich auszuschließenden verheerenden Folgen, wurde insoweit ignoriert, dass weder festgestellt wurde, ob es sich um einen Riss handelt und welche Ursachen dem zugrunde liegen könnten. Trotzdem wurde der Weiterbetrieb von der Bayerischen Atomaufsicht genehmigt.
Erst eine fast sechs Monate dauernde intensive Diskussion in den bundesweiten Institutionen (Bundesumweltministerium, Reaktorsicherheitskommission, Gesellschaft für Reaktorsicherheit) brachte die Betreiber des Atomkraftwerks, den TÜV-Süd und die Bayerische Atomaufsicht dazu, dass das Rohr entgegen der ursprünglichen Absicht, nun doch im März 2011 ausgetauscht werden wird.
Alle bisher bekannt gewordenen Informationen deuten darauf hin, dass der Betreiber, der TÜV-Süd und die Bayerische Atomaufsicht aus ökonomischen und politischen Interessen den Befund bewusst als nichtmeldepflichtiges Ereignis eingestuft und damit gezeigt haben: „Wirtschaftliche Interessen gehen vor Sicherheitsinteressen“.
Rudi Amannsberger, 10.02.2011