In Tschernobyl tickt noch immer eine atomare Zeitbombe
Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Super-GAU vom 26. April 1986 steht der Tschernobyl-Reaktor als bedrohliche Atomruine wie ein Mahnmal für Generationen inmitten einer riesigen Anlage, die einst der Stolz der Ukraine war.
Trotz aufwendiger Stabilisierungsarbeiten an der Schutzummantelung und umfangreicher Dekontaminierungsarbeiten im Gelände tickt hier noch immer eine Zeitbombe. Die 2008 installierten gelben Stützpfeiler, die einen Einsturz des „Sarkophags“ verhindern sollen, gelten nach den mit der westlichen Staatengemeinschaft vereinbarten Standards maximal nur noch elf Jahre als sicher.
Ein Checkpoint markiert den Eingang zur Schutzzone, ehe der Bus in die Stadt Tschernobyl einfährt. Aus dem Territorium, das in etwa so groß wie Luxemburg ist, wurden nach dem Reaktorunfall 160.000 Personen verbracht. Rund 3.000 von ihnen seien entgegen aller Verbote 1987 wieder in ihre Häuser zurückgekehrt, schildert Volodymyr Holosha, Chef der Tschernobyl-Sperrzone. Heute würden noch 215 Menschen im gesperrten Gebiet geduldet, vor allem Alte, „die dort ihre Tage beenden wollen, wo sie geboren wurden, und wo die Gräber ihrer Verwandten sind“.
In der Anlage selbst sind nur ganz eingeschränkt Routen zu benutzen, die laut den Behörden „sicher“ sind. Obwohl das Kraftwerk im Jahr 2010 stillgelegt wurde, sind heute noch 3.473 Personen hier beschäftigt. Ihre Aufgabe ist es, die Anlage zu überwachen, zu dekontaminieren und die Brennstoffe aus den stillgelegten Reaktoren zu entsorgen. Die meisten Arbeiter kommen aus dem 50 Kilometer entfernten Slavutych. Während der Schicht von Montag bis Donnerstag übernachten sie in der Stadt. „Sie essen zu Abend in Tschernobyl und zu Mittag im Kraftwerk“, sagt Holosha. Nach zwei Wochen Arbeit müssen die Arbeiter vierzehn Tage außerhalb der Sperrzone pausieren. Nach Angaben von Kraftwerksdirektor Igor Gromotkin liegen die Monatslöhne mit umgerechnet 800 bis 900 US-Dollar (581 bis 653 Euro) deutlich über dem Landesdurchschnitt.
Neue Schutzhülle
In der Industriezone rund um den Katastrophenreaktor 4 soll mit internationaler Finanzhilfe eine gigantische neue Schutzhülle („New Safe Confinement“) zusammengebaut und dann über den „Sarkophag“ gestülpt werden. Wer in diese Zone reingeht, muss Schutzanzug und Atemmaske tragen. Vor den Reaktorblock werden Radioaktivitätswerte gemessen, die das 20- bis 1000-fache der natürlichen Umgebungsstrahlung betragen, die in Mitteleuropa bei 0,03 bis 0,25 Mikrosievert liegt. Hier dürfen die Arbeiter maximal 400 Stunden im Jahr tätig sein, auf dem Dach des „Sarkophags“, wo die Radioaktivitätswerte am höchsten sind, maximal eine Stunde pro Jahr. In dem gut abgeschirmten Kontrollraum des zerstörten Reaktorblocks beträgt die Radioaktivität nach offiziellen Angaben 1 Milliröntgen pro Stunde (0,1 Millisievert pro Stunde). In der Plattform einige hundert Meter neben dem „Sarkophag“ hängen viele Flaggen, auch die österreichische – als Zeichen der Unterstützung im Rahmen des fast eine Milliarde Euro schweren internationalen „Tschernobyl-Schutzfonds“.
Die Gefahr einer neuerlichen Kettenreaktion im Reaktor wird von den Experten zwar so gut wie ausgeschlossen. Träte der Ernstfall dennoch ein, würde der Block nicht wieder explodieren, sagt der Projektmanager des Schutzhüllen-Plans, Laurin Dodd, Aber die extreme Hitze würde den „Sarkophag“ beschädigen – mit schweren Folgen für die Umwelt. Trotz der tödlichen Gefahren sieht der Kraftwerksdirektor, der erst nach nach der Reaktorkatastrophe zur Anlage kam, keine Alternative zur Atomenergie, „weil der Elektrizitätsverbrauch der Menschheit rasch zunimmt und das wird so weitergehen“. Gromotkin ist sich „sicher, dass so ein Unfall nur in einer geschlossenen Gesellschaft wie der Sowjetunion passieren kann“.
Angesprochen auf jüngste kolportierte Pläne der Ukraine, das AKW Tschernobyl für Touristen zu öffnen, antwortet der Kraftwerksdirektor ausweichend. „Ich kann das weder bestätigen, noch dementieren.“ Dann sagt er aber doch: „Die Leute sollten sehen, zu was menschliche Fehler in der Hochtechnologie führen können, und dass die Menschen dennoch in der Lage sind, mit so einem großen Unfall umzugehen.“
Über die Toten der Reaktorkatastrophe – Atomkraftgegner sprechen von bis zu 100.000 – redet der Chef der Sperrzone nicht gerne. Nach sowjetischer Statistik seien 30 Tote im ersten Jahr des Unfalls an Verstrahlung gestorben, sagt er. In der Ukraine seien heute offiziell 5.000 Menschen als Leidtragende der Folgeschäden anerkannt, zu den Toten will Holosha gar keine Angaben machen. An eine Wiederansiedlung in der Schutzzone ist nicht zu denken. Zwar sollen Cäsium und Strontium nach 30 Jahren deutlich abgebaut sein, aber Transurane, wie Plutonium, die durch die Reaktorexplosion frei wurden, haben eine Halbwertszeit von Millionen von Jahren. „Wir können Erdäpfel und Kohl erst wieder in 20.000 Jahren hier anbauen“, erklärt AKW-Chef Gromotkin.
Textquelle: wirtschaftsblatt.at, 27.02.2011