Atomausstieg? Die Wahrheit Teil 15: AKWs kommen auf den Hausmüll
Deutschland steigt aus. Bis 2022 sollen in einem Stufenplan alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden, das erste bereits 2015. Schwarz/gelb feiert das eigene Einknicken im Fortbestand der Atomenergie als Erfolg, rot/grün stimmt mit dem Argument “alternativlos” zu. Und wegen einer Änderung des Strahlenschutzgesetzes landen tausende Tonnen radioaktiver Abfälle statt in einem Endlager auf Hausmülldeponien oder werden wiederverwendet.
„Freimessen“ heisst das Zauberwort, das den Betreiber von Atomkraftwerken einen riesigen Berg an radioaktiven Abfälle zur Entsorgung erspart. Mit Sand- und Wasserstrahl-Hochdruck oder in Laugenbädern werden radioaktiv belastete Teile so gut es geht gereinigt. Mitarbeiter in Ganzkörper-Schutzanzügen bearbeiten die Überreste der Reaktoren – egal ob aus Stahl, Beton, Holz, Schlacke oder Alu. Am Ende werden all diese Stoffe „freigemessen“. Das heißt, dass die radioaktive Belastung dann unterhalb der gesetzlich festgeschriebenen Grenzwerte liegt. Und diese Grenzwerte wurden mit der letzten Änderung der Strahlenschutzverordung 2001 zugunsten des „Freimessens“ erhöht.
„Das Wort „Freimessen“ suggeriert ja, dass da anschließend Freiheit von Risiko, Freiheit von Gesundheitsgefährdung da ist. Das ist natürlich nicht der Fall. Man darf nicht übersehen, dass man das nicht sieht. Das sieht aus wie ganz normaler Schrott. Er ist aber kontaminiert und kann ein Risiko für die Gesundheit von Menschen darstellen“, so Prof. Wolfgang Hoffmann von der Uni Greifswald, der sich besonders mit den gesundheitlichen Risiken der Atomkraft und des Atommülls auseinandersetzt.
So landen tausende Tonnen AKW-Schrott nicht, wie man vielleicht denken könnte, als gefährlicher Sondermüll auf speziellen Deponien, sondern nach Recherchen von NDR Info auch auf ganz normalen Hausmülldeponien: Auf der Deponie in Ihlenberg bei Schönberg in Mecklenburg-Vorpommern sind seit 1996 rund 15.000 Tonnen „freigemessener“ Schrott aus dem Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald gelandet. Dort werden seit 1995 fünf Reaktoren russischen Typs zurückgebaut. „Freimessen“ kann aber auch bedeuten, dass die Überreste von Atomkraftwerken in den sogenannten Wertstoffkreislauf wieder zugeführt werden. Und dann findet sich das Metall zum Beispiel in Bratpfannen, Zahnplomben oder Brillengestellen wieder.
Die Entfernung von der Deponie zum Zentrum der nächstgelegenen Großstadt Lübeck beträgt etwa 14 km, die nächste Wohnbebauung ist nur 200 Meter entfernt. Dort schlagen nun Umweltschützer Alarm: Der Kieler Umwelttoxikologe Dr. Hermann Kruse warnt davor, dass die Radioaktivität unter keinen Umständen in die Umwelt kommen darf. „Das heißt, es darf zu keinem Verstauben kommen, dass eben die Umwelt der Deponie mit radioaktiven Isotopen belastet wird. Es darf auch unter keinen Umständen vorkommen, dass diese radioaktiv belasteten Isotope ins Grundwasser gelangen können“, so Kruse.
Intaktes Notkühlsystem noch über Jahre notwendig
Auch ein stillgelegtes AKW ist gefährlich. Der Betrieb lässt sich stoppen, der Zerfall der Radionuklide nicht. Bis die Brennelemente im Abklingbecken so weit heruntergekühlt sind, dass sie in Castorbehälter gepackt und in ein Zwischenlager gebracht werden können, vergehen rund fünf Jahre. Die Kühl- und Notkühlsysteme des AKW müssen also auch in der Nachbetriebsphase funktionieren. Fällt ein System aus, muss es ersetzt oder repariert werden. Kommt es zu einer Störung und die Kühlung wird unterbrochen, können die Brennelemente im Abklingbecken schmelzen.
Schwer verstrahlte Anlagenteile wie der Reaktordruckbehälter oder der Kernmantel, der durch den Neutronenbeschuss selber zur Strahlenquelle geworden ist, müssen per Fernbedienung von Robotern zerlegt werden. Teils geschieht dies unter Wasser, denn Wasser kühlt nicht nur sondern schirmt auch die Strahlung ab. Im AKW Stade wog der stählerne Druckbehälter dem Konzern E.on zufolge 253 Tonnen, die in 273 Teile zerlegt und in 60 Behälter verpackt wurden.
Was dann noch kontaminiert ist oder strahlt, wartet in Interimslagerstätten auf den Abtransport. Das kann lange dauern. Für die schwach- und mittelradioaktiven Reste ist Schacht Konrad als Endlager vorgesehen. Das umstrittene Atommülllager sollte eigentlich längst fertig sein. Die Inbetriebnahme wird nun für 2019 erwartet. Der hochradioaktive Schrott der zerlegten AKW wird teuer zwischengelagert, bis es irgendwann – vielleicht – ein sicheres Endlager gibt. Radioaktiven Stoffe verbleiben also so lange am Standort oder in Zwischenlagern, bis sie dem Bundesendlager „Konrad“ oder wiederrum nach behördlicher Freigabe nach Jahrzehnten des „Abklingens“ der radioaktiven Strahlung dem Schrotthändler zugeführt würden. Das Zwischenlager in Greifswald-Lubmin soll bis 2080 betrieben werden.
Arbeit für Rückbau-Spezialisten gibt es schon jetzt reichlich. Ab den 1950er Jahren wurde in Deutschland fieberhaft gebaut: Forschungsreaktoren, Brennelementefabriken und Plutoniumherstellung, Wiederaufarbeitungsanlagen, AKW-Prototypen und ihre großen kommerziellen Nachfolger. Schon in den Siebzigerjahren begannen die Rückbauten. Insgesamt gab es 37 Forschungsreaktoren, von denen 28 mittlerweile zurückgebaut sind. An fünf Anlagen wird noch gearbeitet, vier sind endgültig abgeschaltet, haben aber die Genehmigung zum Rückbau noch nicht erhalten. Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe wird seit 1993 – also seit 18 Jahren – zerlegt. Zuletzt sorgte im Februar 2011 der Abtransport von hochradioaktiver Atomsuppe, verfüllt in fünf Castorbehälter, für die extra mit Milionen eine Verglasungsanlage gebaut werden musste, für Aufsehen.
- 16 Atomkraftwerke – Prototypen und Leistungsreaktoren – werden derzeit zurückgebaut, darunter die AKW Obrigheim (seit 2008) und Stade (seit 2005), der AKW-Komplex Greifswald/Lubmin (seit 1995) und das AKW Gundremmingen A (seit 1983). Erst drei kleine AKW sind bereits vollständig zerlegt: Großwelzheim, Niederaichbach und das Versuchs-AKW Kahl.
Für die Kosten des Rückbaus, je nach AKW-Größe ab ca. 500 Millionen Euro aufwärts, kommen die vier großen Energiekonzerne als Betreiberfirma auf. Sie müssen während des Betriebs ihrer AKW Rückstellungen bilden, die sich bis Dezember 2010 auf knapp 29 Milliarden Euro summiert haben. Geht allerdings ein Unternehmen pleite, muss der Steuerzahler einspringen. Die Rückstellungen sind steuerfreies Kapital, das für Investitionen in anderen Bereichen genutzt wird. In der Vergangenheit sind dadurch klare Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Energieversorgern entstanden, zudem ermöglichte es E.on, RWE, EnBW und Vattenfall den Zukauf vieler kleiner Stadtwerke.
Für die alten Forschungsanlagen und die DDR-AKW ist allein der Bund zuständig. Bisher haben sich die Rückbaukosten auf etwa 5,2 Milliarden Euro summiert – mindestens 5,4 Milliarden sollen bis 2035 noch hinzukommen.
Wenn in Deutschland das letzte AKW vom Netz geht, wird die Masse der atomaren Altlasten um 17 Reaktoren gewachsen sein. Der Rückbau der kontaminierten Anlagen wird Jahrzehnte dauern – mindestens 10 bis 15 Jahre pro AKW. Ein Endlager für den strahlenden Schrott gibt es nicht. Die Erfahrungen zeigen zudem, dass kaum ein Rückbau planmäßig verläuft. In der Regel dauern die Arbeiten länger als veranschlagt. Entsprechend steigen die Kosten.
Rund 25 Jahre lang haben Regierungen und Konzerne Atomanlagen gebaut auf Teufel komm raus. Privatwirtschaftliche Atomkraftwerke wurden mit hunderten Milliarden Euro aus Steuergeldern subventioniert. Die nukleare Hinterlassenschaft wieder loszuwerden, dauert ein Vielfaches an Jahren und verschlingt viele weitere Milliarden. Übrig bleiben zigtausende Tonnen strahlender Schutt und Schrott. Selbst wenn irgendwann ein Endlager für hochradioaktiven Müll gefunden sein sollte – die Atomkraft-Euphorie der 1950er und 60er Jahre wird noch viele Generationen nach uns belasten.
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Quellen (Auszug): http://www.umweltruf.de, greenpeace.de, ndr.de; 11.07.2011