KIKK-Studie: Krebsgefahr im Nahbereich von Atomanlagen erhöht
Das Risiko für Kinder an Leukämie (Blutkrebs) zu erkranken nimmt nach der Studie „Epidemiologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung von Kernkraftwerken (KiKK-Studie)“ zu, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerk liegt. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz, teilte das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) als Auftraggeber der Studie am Samstag, den 08.12.2007 mit. BfS-Chef König: „Das Risiko für Kinder, an Leukämie zu erkranken, ist umso größer, je näher sie am Reaktor wohnen“.
Die Zahlen der Untersuchung beruhen auf einem Zeitraum von 24 Jahren und betreffen 21 Atommeiler in Deutschland, vier davon sind bereits stillgelegt. Ein Forscherteam wertete im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz Daten des deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz aus. Das Ergebnis: Zwischen 1980 und 2003 erkrankten im Umkreis von fünf Kilometern um die Reaktoren 77 Kinder an Krebs, davon 37 an Leukämie. Im statistischen Durchschnitt wären aber nur 48 Krebs- beziehungsweise 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Hochgerechnet würde das ein erhöhtes Kinderkrebsrisiko von 66 Prozent bedeuten – und ein weit mehr als verdoppeltes Leukämierisiko um 120 Prozent. „Etwa 20 Neuerkrankungen sind also allein auf das Wohnen in diesem Umkreis zurückzuführen“, stellte das Bundesamt für Strahlenschutz fest.
Besonders Kinder unter 5 Jahren betroffen
Für die Studie wurde die Entfernung des Wohnorts der Kinder vom Atommeiler mit einer Genauigkeit von 25 Metern bestimmt. Zudem wurden neben 1.692 an verschiedenen Krebsformen erkrankten Kindern auch 4.735 nicht erkrankte Kinder aus derselben Gegend einbezogen. Die Untersuchung konstatierte dann für die 41 Landkreise in der Umgebung von 16 AKW-Standorten einen „entfernungsabhängigen Risikoanstieg“. Das Risiko, an einem Tumor oder Leukämie zu erkranken, steigt demnach statistisch signifikant mit der Nähe des Wohnortes zu einem Reaktor an.
Ausschlaggebend für den Risikoanstieg sind dabei im Wesentlichen die vermehrten Leukämieerkrankungen von Kindern unter fünf Jahren. Aus den Daten einer [ Studie aus dem Jahr 1992 zu Kinderkrebs in der Nähe von AKWs / Alfred Köberlein: Kinderkrebs um Kernkraftwerke] konnte man zwar durchaus ein erhöhtes Leukämierisiko bei Kindern für den 5-Kilometer-Radius ablesen. Die Studie betrachtete dann aber das Krebsrisiko in einem Umkreis von 15 Kilometern um die Atommeiler. Die Ausdehnung des betrachteten Gebietes führte zu einer Art Verdünnungseffekt des Risikos.
Plötzlich gab es um AKWs kein statistisch signifikant höheres Risiko mehr. Der Auftraggeber der neuen Studie, das Bundesamt für Strahlenschutz, wollte den Pro-und-Contra-Streit unterschiedlicher Experten von vornherein vermeiden. Entworfen und begleitet wurde die Studie daher von einer zwölfköpfigen Expertengruppe. In der Gruppe hatten sich von Anfang an Kritiker und Verteidiger der Atomkraft auf eine gemeinsame Vorgehensweise zu einigen. „Unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichem Ansatz haben gemeinsam das Design der Studie entwickelt“, sagte BfS-Präsident Wolfram König. Nach einer Ausschreibung erhielt dann das Kinderkrebsregister in Mainz den Auftrag.
Krebshäufung seit 1997 bekannt
Die Studienergebnisse zur Krebshäufung sind nicht neu: Die aktuelle Untersuchung fusst auf der sogenannten Michaelisstudie aus dem Jahr 1997. Schon damals hatte man erhöhte Leukämie-Werte im Umkreis von fünf Kilometern festgestellt. Damals bezog man sich jedoch lieber auf die Zahlen, die einen Radius von 15 Kilometern einbeziehen und fand „aufgrund verwässerter Daten“, wie Edmund Lengfelder anmerkt, keinen Zusammenhang zwischen Krebs und Reaktornähe mehr. Erst auf massiven Druck der Bevölkerung wurde die – nun veröffentlichte – Folgestudie angeleiert.
Am Studiendesign wirkten diesmal Befürworter wie Gegner der Atomkraft mit, damit keine Partei der anderen den schwarzen Peter der Informationsverzerrung zuschieben konnte. Inzwischen sollen beteiligte Experten davon sprechen, dass sich die Leukämiehäufung vielleicht auch innerhalb eines Radius von 50 Kilometern nachweisen lasse.
Studie gibt keine Erklärung für erhöhte Krebsrate
Ob das erhöhte Krebsrisiko für Kinder aber tatsächlich durch die Strahlenbelastung aus einem Atomkraftwerk verursacht wird, steht laut Bundesumweltministerium und BfS nicht fest. Die Strahlenbelastung der Bevölkerung müsste durch den Betrieb der Atomkraftwerke in Deutschland um mindestens das tausendfache höher sein, um den beobachteten Anstieg des Krebsrisikos nach heutigem Stand der Wissenschaft erklären zu können, erklärte das Ministerium.
Krebs in Reaktornähe: Grenzwerte viel zu hoch
Auszüge von: focus-online.de
Gesetzliche Grenzwerte sollen die Bevölkerung vor Gesundheitsrisiken durch Atomkraftwerke schützen. Doch basieren sie auf Erkenntnissen aus den 50er-Jahren. 1958 gab die Internationale Strahlenschutzkommission erstmals eine Empfehlung ab. Sie schlugen einen Grenzwert von damals 5 rem Strahlenbelastung durch Atomkraftwerke verteilt auf 30 Jahre vor – die Zeit des Lebens, in der die meisten Menschen sich – zumindest damals – fortgepflanzt hatten.
Ihre Empfehlung begründeten sie aber nicht mit gesundheitlichen Erwägungen, vielmehr stellten sie fest, dass mit dem Grenzwert tatsächlich eine „beträchtliche Belastung“ durch genetische Schäden zu erwarten sei. Allerdings seien diese „vertretbar“ im Vergleich zu dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen, der von der Atomkraft zu erwarten sei (Recommendations of the Commission on Radiological Protection, Pergamon Press, London, 1958). Kurz gesagt: Damals ging es offenbar niemandem darum, Gesundheitsrisiken klar zu benennen und einzugrenzen.
Dass auf diesen Zahlen pikanterweise auch heute noch die bundesdeutsche Strahlenschutzverordnung beruht, „das weiß kaum einer“, sagt Edmund Lengfelder vom Strahlenbiologischen Institut der LMU-München. Der Wissenschaftler hat diese Zusammenhänge gemeinsam mit seinem Kollegen Roland Scholz recherchiert und bereits 1989 publiziert. Hinzu kommt: „Die Strahlenmedizin hat sich damals vor allem auf Daten aus Hiroshima und Nagasaki gestützt“, berichtet Henrik Paulitz. Wie man jedoch später feststellen musste, waren die unsauber: Menschen, die einer angeblich nicht kontaminierten Kontrollgruppe angehörten, waren vielfach dennoch radioaktiver Strahlung ausgesetzt gewesen – was die Daten stark verzerrte.
Zwar empfahl die deutsche Atomkommission 1969, die Grenzwerte von 5 rem auf 2 rem in 30 Jahren festzulegen, um auch andere künstliche Strahlenquellen wie Röntgenuntersuchungen berücksichtigen zu können. Das entspricht in etwa dem noch heute geltenden Grenzwert von insgesamt 0,6 Millisievert (mSv) pro Jahr. Extrem problematisch daran ist jedoch, dass diese Empfehlung einzig und allein Erbgutschäden an den Keimzellen berücksichtigt – mögliche Krebsrisiken hatte damals niemand im Visier.
- Das heißt: Der heute noch aktuelle Grenzwert zum Schutz vor möglichen Krebserkrankungen ist völlig inakzeptabel.
Die derzeitigen deutschen Strahlenschutzgrenzwerte, auf die sich auch Bundesumweltminster Gabriel stützt, sind nach Auffassung der IPPNW „wissenschaftlich offensichtlich längst nicht mehr haltbar“. So habe das EU-Forschungsprojekt „Soul“ seinem Leiter Dr. Peter Jacob vom GSF Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit zufolge etwa 4mal höhere Strahlenschäden in der Umgebung der russischen Atomwaffenschmiede Majak festgestellt als nach dem Risikomodell, das der deutschen Strahlenschutzverordnung zugrunde liegt, zu erwarten wären. Das bedeute, „dass die deutschen Strahlenschutzgrenzwerte offensichtlich zu hoch angesetzt sind“, so die IPPNW. Im Übrigen sei inzwischen „weitgehend unstrittig, dass es für die gesundheitlichen Auswirkungen von Radioaktivität keinen Schwellenwert gibt“. Insofern sei es „zu kurz gegriffen“, wenn Minister Gabriel eben diese Grenzwerte als Grundlage nehme, „um vor laufenden Kameras zu behaupten, ein Zusammenhang zwischen den Atomkraftwerken und den Krebserkrankungen sei zweifelhaft“. Man sei sich inzwischen „einig darin, dass Krebs und Leukämie zunehmen, je dichter Kinder an Atomreaktoren wohnen“.
- Die IPPNW meint daher, dass nicht die aktuellen Studienergebnisse überprüft werden müssten, „sondern die derzeit gültigen Strahlenschutz-Grenzwerte“.
Greenpeace: Wirkung von niedrigen Strahlendosen noch lange nicht vollständig verstanden
„Der Zusammenhang zwischen einem erhöhten Leukämierisiko für Kinder und der Nähe des Wohnortes zu einem Atomkraftwerk ist nun methodisch unwiderlegbar dargestellt“ kommentiert Heinz Smital, Atomexperte von Greenpeace. Smital weist darauf hin, dass die biologische Wirkung von niedrigen Strahlendosen noch lange nicht vollständig verstanden sei. Es gebe immer wieder Überraschungen, zum Beispiel bei der Beobachtung von Zellkulturen, die mit der gängigen Berechnung des Strahlenschutzrisikos nicht zu erklären seien.
Auch die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) wird demnächst neue Richtlinien herausgeben. Sie hat unter anderem festgestellt, dass das Leukämierisiko bei Kindern dramatisch unterschätzt wurde. „Angesichts der Brisanz der Studie ist es richtig, sie zu prüfen. Dies muss aber schnell passieren. Und schon jetzt ist klar: Niemand kann Entwarnung geben zu den Risiken von Atomkraftwerken“, so Smid.
Robin Wood: Biologische Wirkung der Niedrigstrahlung bis heute völlig unterschätzt
Dirk Seifert, Energiereferent von Robin Wood, sagt: „Anstatt die Studienergebnisse anzuzweifeln, sollten die Strahlenschutz-Grenzwerte auf den Prüfstand. Offenbar wird die biologische Wirkung vor allem der sogenannten Niedrigstrahlung auf Kinder bis heute völlig unterschätzt.“
WHO-Chefin: Auch Niedrigstrahlung ist gefährlich
Bislang vertrat die WHO immer dieselbe Position wie die IAEA: So genannte “interne radioaktive Strahlung”, im Körper angereichert, sei nicht gefährlich. Seit Mai 2011 ist damit Schluss: “Es gibt keine ungefährlichen Niedrigwerte radioaktiver Strahlung”, erklärte WHO-Generaldirektorin Margaret Chan am Mittwoch bei einem kurzfristig anberaumten Treffen mit Mitgliedern der kritischen “Initiative für eine unabhängige WHO”.
Radioaktive Emissionen im „Normalbetrieb“: Abluft, Abwässer, defekte Brennelemente
Fest steht: Atomkraftwerke blasen strahlende Teilchen wie Tritium, radioaktiven Wasser- und Kohlenstoff in die Luft und pumpen sie in Gewässer. Kommen defekte Brennstäbe hinzu, treten zudem radioaktive Edelgase aus dem Schornstein aus.
- 25.07.2007: AKW Brunsbüttel: Mehrere Brennelemente werden ausgetauscht
- 20.08.2007: AKW Gundremmingen: Ein defektes Brennelement wurde ausgetauscht
- 14.09.2007: Schweden: AKW Oskarshamn-3 wegen Brennstoffleckage abgeschaltet
- 20.09.2007: AKW Krümmel: Defektes Brennelement führte zur Brennstoffauswaschung
Das Problem: „Niemand weiß genau, was das anrichtet“, sagt Henrik Paulitz. Ebenso wackelig sind die Berechnungen, wie viel von dem strahlenden Müll tatsächlich bei den Menschen der Umgebung ankommt. Hier werden hochkomplizierte Rechenexempel statuiert: von den meteorologischen Bedingungen wie Luftdruck und Niederschlag, über Annahmen über die Ernährungsgewohnheiten der Menschen und ihr Freizeitverhalten, weiß Edmund Lengfelder.
Leukämien in der Elbmarsch
Seit Jahren beschäftigt die Häufung von Blutkrebsfällen (Leukämie) in der Umgebung des AKW Krümmel Wissenschaftler. Seit 1990 werden in der Umgebung des Atomkraftwerkes Krümmel gehäuft Leukämiefälle bei Kindern festgestellt. Insgesamt sind es bis heute 11 Fälle; davon entfallen 8 auf die Elbmarsch, in der nach der statistischen Erwartung nur etwa alle 20 Jahre ein kindlicher Leukämiefall auftreten dürfte. Drei weitere Fälle sind außerhalb der Elbmarsch, aber im 5 km-Radium um das Atomkraftwerk aufgetreten.
Die Killerfrage – Alles nur ein Zufall?
Manche Experten halten dennoch puren Zufall als Erklärung für die erhöhten Kebszahlen nicht für ausgeschlossen. Dafür könnte sprechen, dass die Gesamtfallzahlen tatsächlich niedrig sind – denn Atomkraftwerke stehen meist auf grüner Wiese, also in Regionen, die eher dünn besiedelt sind. Das hat niedrige Fallzahlen zufolge, die den statistischen Wert schmälern. Andererseits: Kann es sich tatsächlich um Zufall handeln, wenn sich dasselbe Bild für alle 21 bundesweiten Kraftwerksstandorte abzeichnet? Das scheint ähnlich wahrscheinlich wie der berühmte Blitz, der nicht nur zwei, sondern gleich 21-Mal an derselben Stelle einschlägt.
Ivo Banek, Sprecher des Konzerns Vattenfall, Betreiber der AKW Krümmel und Brunsbüttel: „Nach bisherigen Untersuchungen und menschlichem Ermessen ist kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Leukämiefällen und Atomkraftwerk erkennbar.“ – Aber lässt es sich vollkommen ausschließen, dass das Atomkraft Krümmel für die Kinderkrebsfälle verantwortlich ist? Darauf Banek: „Das ist die Killerfrage, das wissen Sie selbst. Ausschließen kann man im Leben nichts.“
- Atomanlagen stilllegen!
Mit dem Hintergrund, dass eine Gefährdung der Öffentlichkeit durch den Betrieb von Atomanlagen nicht ausgeschlossen werden kann, müssen die deutschen Atomkraftwerke gemäß des im europäischen Umweltrecht verankerten „Vorsorgeprinzip“ umgehend stillgelegt werden.
weitere Informationen:
- Alfred Köberlein: Kinderkrebs um Kernkraftwerke / Michaelisstudie
Diverse Hintergrundinformationen zu vorrangegangenen Studien bzgl. Kinderkrebs um Kernkraftwerke des Physikers A. Köberlein, Umweltinstitut München.
- US-Studie: Leukämierisiko in der Umgebung von Atomanlagen erhöht
In der Umgebung von Atomanlagen erkranken mehr Kinder und Jugendliche an Leukämie als in anderen Regionen. Je nach Altersgruppe ist das Krebsrisiko um bis zu 21 Prozent erhöht, wie eine am Donnerstag im «European Journal of Cancer Care» veröffentlichte US-Studie ergab. Der genaue Grund für den Zusammenhang zwischen Kernkraftwerken und erhöhter Leukämie-Gefährdung sei bislang aber nicht bekannt, betonten die Forscher.