Universität: Reaktorunfälle haben unabsehbare Folgen auf Ökosysteme
Reaktorkatastrophen haben vermutlich gravierendere und weit weniger absehbare Auswirkungen auf die Ökosysteme, als bisher angenommen. Forscher der Universität Lüneburg haben mehr als 500 Studien gesichtet, die in den 25 Jahren nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl entstanden sind und fordern zum Jahrestag des verheerenden Unglücks im japanischen Fukushima eine neue Debatte über mögliche Langzeitschäden von Störfällen und Unfällen in atomaren Anlagen.
Das Forscherteam um den Lüneburger Professor Dr. Henrik von Wehrden stützt sich bei seinen Erkenntnissen auf die Auswertung von mehr als 500 Studien über die Auswirkungen des Super GAUs von Tschernobyl. Veröffentlicht werden die Erkenntnisse der Leuphana-Wissenschaftler nun in der angesehenen amerikanischen Wissenschaftszeitschrift „Conservation Letters“.
- Darin stellen sie fest, dass man trotz der Datenfülle noch immer nur recht wenig darüber weiß, was die Strahlung langfristig in den Ökosystemen anrichtet. Die Studienautoren fordern daher, nach dem Fukushima-Unglück die Forschungsanstrengungen besser zu koordinieren.
Ein Viertel Jahrhundert ist seit dem bislang gravierendsten Atomunglück von Tschernobyl vergangen. Und noch immer sind in Südengland einige Wiesen für die Viehhaltung gesperrt, noch immer dürfen in Finnland mancherorts keine Fische gezüchtet werden. Zwei Beispiele von vielen, die das Forscherteam unter der Leitung der Leuphana Universität Lüneburg zusammen getragen hat.
„Wir haben 521 Studien aus ganz Europa ausgewertet“, sagt Studienleiter Professor Dr. Henrik von Wehrden von der Leuphana Universität Lüneburg. „Sie zeigen, dass die Folgen von Tschernobyl noch längst nicht ausgestanden sind.“
Ein Grund dafür ist die Langlebigkeit der Radionuklide, die bei dem Super-GAU 1986 freigesetzt wurden. Dazu zählen vor allem Caesium-137 (Halbwertszeit: 31 Jahre) und Strontium-90 (29 Jahre). Diese beiden radioaktiven Isotope sind also noch nicht einmal zur Hälfte zerfallen. Sie sorgen in manchen Regionen bis heute für eine erhebliche Strahlenbelastung. So wurden im Jahr 2009 in südschwedischen Pilzen Werte von 180.000 Bequerel pro Kilogramm gemessen – der zulässige Grenzwert in Deutschland liegt für Nahrungsmittel bei 600 Bequerel pro Kilogramm. Selbst in 2.000 Kilometern Entfernung vom Unglücksort gibt es bis heute zum Teil erhebliche Strahlenbelastungen; in Deutschland beispielsweise haben Forscher 2009 stark erhöhte Werte in Wildfleisch festgestellt.
Allerdings variieren die Strahlenwerte von Ort zu Ort stark. Das hängt zum Einen mit den meteorologischen Bedingungen zur Unglückszeit zusammen, vor allem mit der Windrichtung und dem Niederschlag. Allerdings reichen diese Faktoren nicht aus, um die Unterschiede zu erklären.
„Die von uns gesichteten Studien zeigen glasklar, dass die Karten vom radioaktiven Fallout – die ja auf meteorologischen Daten basieren – einfach zu ungenau sind“, betont von Wehrden. „Messungen vor Ort sind einfach unabdingbar.“
Dazu kommt, dass die Strahlung heute noch wandert: So kann bei Waldbränden in großen Mengen radioaktive Asche in die Luft gelangen und durch den Wind in bislang unbelastete Gebiete getrieben werden. Das war beispielsweise 2010 in Russland der Fall.
Welche Konsequenzen die Strahlenbelastung für die Ökosysteme hat, sei bis heute nur unzureichend bekannt, kritisiert der Ökologe.
„Es hat sich aber gezeigt, dass selbst geringe Strahlendosen Pflanzen und Tiere schädigen können“, sagt er. „Wir wissen heute etwa, dass Ratten ihr Schlafverhalten ändern, wenn sie radioaktives Wasser trinken – und das schon bei einer Belastung von 400 Bequerel pro Liter. Und in Zwiebeln hat man bei ähnlichen Strahlendosen Chromosomen-Schädigungen festgestellt.
Direkt um Tschernobyl sei die Radioaktivität übrigens so stark gewesen, dass dort ein ganzes Waldgebiet abgestorben sei. Zudem seien dort die Mutationsraten in Fischen und Vögeln zum Teil drastisch angestiegen. Bei manchen Vögeln habe man auch ein verkleinertes Gehirnvolumen festgestellt.
Zusammen mit seinen Co-Autoren mahnt er an, Lehren aus Tschernobyl zu ziehen. Das betreffe nicht nur die Politik, sondern auch die Forschung.
„Wir müssen uns besser koordinieren, um valide Erkenntnisse über die langfristige Wirkung von Strahlung auf komplexe Ökosysteme zu gewinnen“, sagt er. „Das Unglück in Fukushima bietet in dieser Hinsicht eine Chance, die wir nutzen sollten. Auch in Zukunft werden auf unserem Planeten vermutlich noch viele neue Atom-Kraftwerke gebaut. Die Politik muss hierbei aber auch die möglichen Risiken für die Umwelt berücksichtigen, die wir bisher kaum kennen und verstehen.“
Quelle (Auszug): http://www.leuphana.de, 08.03.2012