Studie: Vorsorge unzureichend, Risiko hoch – ein GAU würde halb Europa verseuchen
Europa hat die höchste Reaktordichte der Welt: In den 26 Ländern stehen 181 kommerzielle Kernreaktoren, 18 weitere sind geplant, hinzu kommt noch eine beträchtliche Zahl von Forschungsmeilern. Das Projekt flexRISK, das von österreichischen Wissenschaftlern erstellt wurde, untersucht die geographische Verteilung des Risikos durch schwere Unfälle in Nuklearanlagen. In Tschechien und Frankreich ist es besonders hoch. Bei einem Unfall würde halb Europa verseucht – und die Katastrophenschutzmassnahmen sind völlig unzureichend.
Ausgehend von Quelltermen und Unfallhäufigkeiten wurden meteorologische Ausbreitungsrechnungen für etwa 2.800 Wettersituationen und daran anschließende Dosisberechnungen zur Abschätzung der Folgen schwerer Unfälle durchgeführt. Karten und Diagramme machen z.B. ersichtlich, wo in Europa das Risiko von einem schweren Unfall betroffen zu sein besonders hoch ist, oder welchen Beitrag die Kernkraftwerke eines bestimmten Landes liefern. Die Wissenschaftler haben für jeden einzelnen von insgesamt 90 Standorten den GAU durchgespielt und die Verbreitung des Fallouts in jeweils 2700 verschiedenen Wettersituationen simuliert.
Das Hauptbelastungsgebiet für eine hohe Kontamination ist im östlichen Mitteleuropa von Tschechien über die Slowakei nach Ungarn und zieht eben auch den Osten Österreichs sehr stark in Mitleidenschaft. Einen weiteren Hotspot gibt es in der Ukraine und insbesondere auch im Bereich von St. Petersburg, wo sich eine der größten Atomkraftwerksanlagen Europas befindet. In Westeuropa ist vor allem das Rhonetal in Frankreich zu nennen, wo entlang des wasserreichen Flusses 14 AKW-Einheiten wie an einer Perlenschnur aufgereiht sind. In Mittel- und Osteuropa sorgen die Reaktoren sowjetischer Bauart für das erhöhte Risiko, weil sie anfälliger für Störfälle sind als die westlichen Anlagen. Die alten britischen Reaktoren liegen beim Risiko aber ähnlich, da diese Anlagen allerdings viel kleiner sind, ist die mögliche Fernwirkung wesentlich geringer. Auch nicht überraschend kommt das schlechte Urteil über die älteren deutschen Siedewasserreaktoren, von denen bis zum vergangenen Jahr noch vier Anlagen in Betrieb waren.
Als wichtigen weiteren Faktor haben die Wissenschaftler das Wetter betrachtet. Die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima haben verdeutlicht, welche Bedeutung es für die nukleare Kontamination hat: Ein durchziehendes Niederschlagstief entschied in den Tagen der schlimmsten Explosionen, ob ein Ort auf Jahrzehnte nicht mehr bewohnt werden kann oder ob die Bewohner ihre Stadt nicht verlassen brauchten. Die beiden Unfälle haben auch gezeigt, dass es bei der Belastung im Wesentlichen auf zwei Nuklide ankommt: das gasförmige Jod-131 und das an Partikeln haftende Cäsium-137. Jod-131 verbreitet sich schnell und verliert bei einer Halbwertszeit von nur acht Tagen auch schnell an Brisanz. Das macht es aber nicht ungefährlich, wird es eingeatmet oder mit Nahrung aufgenommen, wird es sofort in der Schilddrüse einglagert und erhöht die Gefahr von Krebs dramatisch. Behörden empfehlen daher die unverzügliche Einnahme von Jod-Tabletten. Cäsium-137 ist mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren dagegen das Nuklid, das für eine längerfristige Strahlenbelastung der Umwelt sorgt. Für die Einrichtung von Sperrzonen ist seine Verteilung ausschlaggebend.
In Fukushima sind einzelne Gebiete bis etwa 60 Kilometer Entfernung sehr stark kontaminiert. Nach dem GAU von Tschernoybl 1986 wurden Gebiete mit einer Belastung von mehr als 1,5 Millionen Becquerel pro Quadratmeter zur Sperrzone erklärt, teilweise einige hundert Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass ein durchschnittlicher Atomreaktor eine solche Kontamination in einem Umkreis von 500 Kilometern verursachen kann.
- Ein schwerer Unfall im Atomkraftwerk Isar könnte den Ergebnissen nach ganz Süd- und Südostdeutschland sowie Österreich und Teile Polens und Tschechiens schwer belasten. Die Siedewasserreaktoren Leibstadt und Mühleberg in den Schweiz und das älteste französische AKW Fessenheim erhöhen das Risiko für Süddeutschland zusätzlich.
Derzeit besagen deutsche Vorschriften, dass in einer 100-Kilometer-Zone Kinder und Jugendliche sofort nach einem Atomunfall mit Jod-Tabletten versorgt werden sollen. Wie eine Studie des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz kommt auch die österreichische Analyse zu dem Schluss, dass diese Zone zu klein bemessen ist. Bei Betrachtung der möglichen Kontamination sind die üblichen Notfall-Planungsgebiete von etwa 20 oder 30 Kilometer ebenfalls nicht ausreichend.
Zur Risikominimierung hilft am Ende nur die sofortige Stilllegung aller Atomkraftwerke!
- zur Webseite der Studie: http://flexrisk.boku.ac.at
- “Stresstests”: Eineinhalb Jahre nach Fukushima keine neuen Erkenntnisse in Europa
3. Juli 2012 – Wie sicher sind Europas AKW? Nach dem Super-GAU von Fukushima sollten Sicherheitstests nach strengen Kriterien durchgeführt werden – einheitlich, umfassend, transparent. Die Ergebnisse liegen vor: Eineinhalb Jahre nach Fukushima gibt es keine neuen Erkenntnisse in Europas Atomanlagen.
- Der nukleare GAU ist wahrscheinlicher als gedacht
23. Mai 2012 – Katastrophale nukleare Unfälle wie die Kernschmelzen in Tschernobyl und Fukushima sind häufiger zu erwarten als bislang angenommen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz haben anhand der bisherigen Laufzeiten aller zivilen AKW weltweit und der aufgetretenen Kernschmelzen errechnet, dass solche Ereignisse im momentanen Kraftwerksbestand etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten können und damit 200 mal häufiger sind als in der Vergangenheit geschätzt. Atomkraftgegner fordern eine neue Debatte über das Risiko, das die Gesellschaft damit trägt.
- Deutschland auf Atomunfall wie in Fukushima nicht ausreichend vorbereitet
17. März 2012 – Deutschland ist auf einen Atomunfall wie in Fukushima nicht ausreichend vorbereitet. Dies berichtet das Nachrichten-Magazin “Der Spiegel” in seiner am Montag erscheinenden Ausgabe. Radioaktive Stoffe würden demnach weit größere Räume verseuchen als bislang angenommen, ganze Städte müssten evakuiert werden – dies sei “nicht in der Notfallplanung vorgesehen”, heißt es in einer bislang unveröffentlichten Studie des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS).
- Studie: Schwere AKW-Unfälle wahrscheinlicher als angenommen
1. März 2012 – Die Wahrscheinlichkeit für schwere Unfälle in einem Atomkraftwerk ist größer ist als bisher angenommen. Atomaufsichten und Wissenschaft gehen bei der Einschätzung des Risikos von mangelhaften Sicherheitsanalysen aus. Eine Studie im Auftrag von Greenpeace deckt erhebliche Mängel in der sogenannten Probabilistischen Risiko-Analyse (PRA) auf.
- Universität: Reaktorunfälle haben unabsehbare Folgen auf Ökosysteme
1. Juli 2012 – Reaktorkatastrophen haben vermutlich gravierendere und weit weniger absehbare Auswirkungen auf die Ökosysteme, als bisher angenommen. Forscher der Universität Lüneburg haben mehr als 500 Studien gesichtet, die in den 25 Jahren nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl entstanden sind und fordern zum Jahrestag des verheerenden Unglücks im japanischen Fukushima eine neue Debatte über mögliche Langzeitschäden von Störfällen und Unfällen in atomaren Anlagen.
Quellen (Auszug): flexrisk.boku.ac.at, welt.de; 05.07.2012