Schweiz: Atomaufsicht und Atomlobby manipulieren Erdbebenrisiko für AKW
Das Erdbeben-Risiko der Schweizer Atomkraftwerke wurde schön gerechnet. Gegenüber ihres Vorgängers HSK geht die Atomaufsichtbehörde ENSI künftig von einer Gefahr aus, die 20 Prozent niedriger ist als noch 2004 angegeben. Eine Experten-Studie hatte damals vor einem bisher vernachlässigten Erdbeben-Risiko gewarnt. Laut Atomkraftgegnern macht die Atomlobby massiv Druck auf die Ergebnisse – noch bevor sie überhaupt veröffentlicht wurden.
Mehr als 20 hochkarätige, unabhängige Erdwissenschaftler aus dem In- und Ausland erstellten 2004 die „PEGASOS-Studie“ („Probabilistische Erdbebengefährdungsanalyse für die KKW-Standorte in der Schweiz“). Nach der Fertigstellung war die Überraschung gross: Die Erdbebengefahr an den Schweizer AKW- Standorten war etwa doppelt so gross wie bis dahin angenommen. Das Risiko war also massiv unterschätzt worden – zum Beispiel musste man beim AKW Mühleberg mit einem 2,6 Mal stärkeren Erdbeben rechnen als früher angenommen. Was bedeutet, dass die Gefahr für einen schweren Atomunfall insbesondere bei den drei Altreaktoren markant höher ist. Die Studie setzte „international neue Standards“, hielt die Atomaufsichtsbehörde HSK (Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen) damals fest. Veröffentlicht wurde die PEGASOS-Untersuchung allerdings bis heute nicht, bekannt sind lediglich die wenigen Eckdaten, die danach in Berichten der Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) zitiert wurden.
Die Aufsichtsbehörde HSK stellte in ihren Berechnungen aber auch grosse Unsicherheiten fest, vor allem wegen fehlender oder lückenhafter Informationen über Erdbebenquellen und des Verhaltens von Fels und Untergrund. Diese Unsicherheiten führten zu einer erhöhten Gefährdungen, weil in solchen Fällen konservativ gerechnet werden muss. Immerhin geht es am Ende um das mögliche Risiko eines schweren Reaktorunfalls. Würden Defizite festgestellt, müssten die AKW-Betreiber für viel Geld nachrüsten – oder die Anlage stilllegen.
Seit 2007 wird die PEGASOS-Studie nun von der Atomlobby im „PEGASOS Refinement Project“ überarbeitet. Dazu werden nach deren Angaben unter anderem neue Untergrundmodelle und Erkenntnisse aus zusätzlichen Bohrungen herangezogen. Die bisherigen Resultate liefern deutlich tiefere Gefährdungswerte als in der PEGASOS-Studie ermittelt. Pauschal wurde die Gefährdung um 20 Prozent reduziert – auf Antrag der AKW-Betreiber.
Das ENSI stellte als Nachfolger der HSK vergangene Woche offiziell fest: Die Schweizer Atomkraftwerke halten jedem Erdbeben und dadurch ausgelöstem Hochwasser stand – auch dem stärksten angenommenen Megabeben, das innerhalb von 10.000 Jahren auftreten könnte. Vor 10.000 Jahren ging die letzte Eiszeit zu Ende. Da niemand solche Zeiträume überblicken kann, behilft man sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen.
- Das die Gefahr aber im Gegenteil ganz real sein kann, zeigt ein Blick ins Jahr 1356. Damals legte ein Beben, das eine Stärke zwischen 6 und 7,1 hatte, die Stadt Basel in Trümmer. Bis zum ältesten Reaktor der Welt, Beznau 1, sind es knapp 50 Kilometer.
Die Beschleunigung durch ein Erdbeben wird in Meter durch Sekunden im Quadrat gemessen. Vor PEGASOS ging man beim schlimmsten Erdbeben etwa vom Faktor 0,15 aus, die unabhängigen ExpertInnen kamen nun zu dem Schluss, dass man mit 0,39 rechnen muss. In Mühleberg wird nun laut Unterlagen aber nur noch mit dem Wert 0,24 gerechnet – also fast 40% weniger als von den Experten empfohlen.
- Die ENSI betont, dass die Herabsetzung nicht auf Druck der AKW-Betreiber vorgenommen worden sei. Man läge mit diesen Ergebnissen immer noch deutlich über den statistischen Auswertungen der historischen Erdbeben und sei auch im internationalen Vergleich „scharf“.
Markus Kühni, ein Berner Ingenieur, zeichnet den Einfluss von Seiten der AKW-Betreiber nach: Als Erster startete der heutige Leiter des AKW Gösgen, Jens-Uwe Klügel, im Fachmagazin „Engineering Geology“ eine Attacke. Er unterstellte, die Pegasos-ExpertInnen hätten schlecht und unwissenschaftlich gearbeitet. Hinter den Kulissen machte die Lobbyorganisation Swissnuclear Druck, bis die HSK 2007 nachgab und den Wert um rund zwanzig Prozent reduzierte. Gleichzeitig durfte Swissnuclear das „Pegasos-Verfeinerungs-Projekt“ starten und konnte dabei den Wert nochmals um rund zwanzig Prozent reduzieren. Deren Vorsitzender hält sich hinsichtlich der beteiligten Wissenschaftler und ihrer Methoden bedeckt. Die Ergebnisse würden auch nicht vor 2013 veröffentlicht.
Das ENSI bescheinigt also den Schweizer AKWs Erdbebensicherheit, bevor aktuelle Analysen überhaupt vorliegen und debattiert werden können – sofern die Untersuchung denn überhaupt publiziert wird. Die ENSI lässt zu, dass die „unabhängige Studie“ von der AKW-Industrie selber schöngerechnet werden kann. Ein Filz, der dank langjähriger Zusammenarbeit von staatlichen Stellen und Atomlobby für einen reibungslosen Weiterbetrieb der Reaktoren sorgt.
„Die Schweiz beherbergt das älteste AKW der Welt – und rechnet sich das Risiko eines schweren Unfalls einfach klein. Die Manipulation bei Annahmen über mögliche Gefahren durch etwa Naturkatastrophen ist ein Beleg für den massiven Einfluss der Atomlobby auf die Ergebnisse von Risikoberechnungen – nicht nur in der Schweiz“, so Jan Becker von contrAtom. „Die Aufsichtsbehörden aller Länder sind aufgefordert, sich der Risikominimierung für die Bevölkerung zu verschreiben – und nicht den reibungslosen Weiterbetrieb der AKW zu ermöglichen. Ernst gemeinte Risikominimierung bedeutet die sofortige Stilllegung der Anlagen! Wir unterstützen die Schweizer AtomkraftgegnerInnen im Kampf für den Atomausstieg.“
- 50 Jahre AKW-Laufzeit: Schweiz plant gefährliches Experiment
28. Juni 2012 – In der Schweiz steht das älteste Atomkraftwerk der Welt. Das Land hat nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima den Atomausstieg beschlossen. Und nun soll der Beznau-Meiler nach Plänen des Betreibers mehr als 50 Jahre alt werden. Atomkraftgegner warnen vor einem gefährlichen Experiment, denn in der Regel gehen AKW schon nach 25 Jahren in den Ruhestand.
- Stresstest in der Schweiz: Erhebliche Mängel in Atomkraftwerken
5. Mai 2011 – In den fünf schweizer Atomkraftwerken sind erhebliche Mängel festgestellt worden. Besonders schlecht schneidet das alte AKW Mühleberg ab. Abgeschaltet werden die Meiler trotzdem nicht. Das ist die Bilanz nach dem ersten “Stresstest” nach Fukushima.
Quellen (Auszug): 20min.ch,11.07.2012; WOZ Nr. 28/2012 vom 12.07.2012