Realitätsverlust: IAEO träumt von 100 Prozent AKW-Wachstum

Die Internationale Atomenergie Organisation IAEO träumt noch immer von der „nuklearen Renaissance“. Trotz Fukushima sei die Atomenergie weltweit auf dem Vormarsch, bis 2030 könnte sich die Anzahl der Atomkraftwerke verdoppeln. Atomkraftgegner unterstellen der Lobbyorganisation Realitätsverlust.

Laut einer Studie der Lobbyorganisation der weltweiten Atomindustrie überlegen momentan 29 Länder, auf Atomenergie umzusteigen. Trotz der Atomkatastrophe in Fukushima sei das Interesse an Atomenergie in vielen Ländern ungebrochen. Besonders in Asien und Afrika gäbe es potentielle Kunden, so dass mit einem Wachstum um bis zu 100 Prozent in der Atomenergienutzung bis 2030 ausgegangen werden könne. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: 2010 waren es noch 34 Länder, die auf Atomkraft setzten.

Bilanz weltweiter Atomkraftwerke, nach World Nuclear Industry Status Report 2012

Bilanz weltweiter Atomkraftwerke, nach World Nuclear Industry Status Report 2012

Weltweit werden zur Zeit 62 Reaktoren gebaut – im Spitzenjahr 1979 befanden sich 233 Atomkraftwerke in der Errichtung. Neun derzeitige Vorhaben existierten seit mehr als 20 Jahren, vier geplante AKW sind seit mehr als zehn Jahren schon gelistet. 43 Reaktoren haben laut IAEO kein offizielles Startdatum. Ob sie je fertiggestellt werden, ist unklar. Mindestens 18 hängen um Jahre hinter ihrem Fertigstellungstermin, bei den restlichen lässt sich dies nicht einschätzen. Den Rekord hält der Reaktor Watts-Bar-2 in den USA, dessen Bau 1973 gestartet ist und dessen Fertigstellung auf 2015 oder 2016 veranschlagt wird. Der Bau des Reaktors „Atucha-2“ in Argentinien begann vor 31 Jahren.

Streit gibt es schon im einfachsten Detail: Laut IAEO befinden sich momentan 435 Atomkraftwerke in Betrieb. Im kritische „World Nuclear Industry Status Report 2012“ sieht aber neben den vier havarierten auch die seit März 2011 abgeschalteten sechs weiteren Reaktoren im japanischen Fukushima „beinahe sicher“ für immer stillgelegt. Damit sind „nur noch“ 429 AKW in Betrieb und seit der japanischen Reaktorkatastrophe wurden 19 Reaktoren stillgelegt – soviele wie noch nie in der Geschichte der Atomenergienutzung. 1990 waren nach der Zusammenführung von DDR und BRD zahlreiche Projekte abgebrochen worden. Dagegen wurden seit März 2011 nur 12 neue Reaktoren in Betrieb genommen.

Eine Untersuchung von Global Data ergab im Juli 2012, dass der Atomausstieg in Europa kommt: in 20 Jahren werden mehr als die Hälfte der 150 AKW stillgelegt sein werden. Soviele, wie in keiner anderen Region weltweit. Hintergrund sind politische Konsequenzen aus den Havarien von Fukushima im März 2011.

  • Die Atomenergiebehörde feiert nicht desto trotz einen kleinen „Erfolg“: jetzt würden wieder mehr AKWs gebaut als zwischen 1995 und 2005.
Anzahl AKW weltweit, nach World Nuclear Industry Status Report 2012

Anzahl AKW weltweit, nach World Nuclear Industry Status Report 2012

Dass in zahlreichen Ländern neue Atomkraftwerke entstehen, muss politisch motiviert sein. Denn ohne eine staatliche oder durch internationale Konzerne abgesicherte Finanzierung lassen sich heutzutage keine Reaktoren mehr bauen. In Bangladesh, das die IAEO als einen von 29 „Einsteigerstaaten“ benennt, ist die Finanzierung für zwei 1.000-Megawatt-Reaktoren nicht geklärt. Die Türkei möchte seit den 70er Jahren gern in die „zivile Nutzung der Atomkraft“ einsteigen. Jordanien chancelte nach Fukushima ein Atomprogramm mit den Worten, man würde sonst in einen „schwarzen Tunnel“ steuern. Japanische Firmen sagten nach Fukushima Projekte im Ausland ab. Im authoritären Weissrussland und in Polen regen sich Proteste gegen Baupläne, auch hier ist die Finanzierung völlig offen. Zum Bauabbruch führte im März 2012 Geldmangel im bulgarischen Belene.

In Afrika existieren bis heute nur in südafrikanischen Koeberg zwei Atomreaktoren. Das einzige AKW ist schlecht gesichert. Mit den lokalen Behörden abgestimmte Notfallpläne zur Evakuierung der Bevölkerung im Fall eines Atomunfalls existieren gar nicht, obwohl die südafrikanischen Gesetze dies vorschreiben.

ABC der Ausstiegswilligen

  • Belgien steigt von 2015 bis 2025 aus und legt sieben Kraftwerke still.
  • Bulgarien gibt Pläne zum Bau eines Atomkraftwerks an der Donau auf.
  • Chile will wegen Erdbebengefahr keine neuen AKW bauen und setzt auf Mix von Erneuerbaren Energien.
  • China verfügte schon Mitte März 2011 eine Überprüfung aller Neubauprojekte – ohne diese allerdings zu sistieren.
  • Deutschland hat den totalen Atomausstieg bis 2022 beschlossen.
  • Grossbritanniens AKW-Konzerne überdenken Neubau aus wirtschaftlichen Gründen.
  • Hollands Neubau Borssele II steht vor dem Aus, die Investoren springen ab.
  • Indiens Atomprogramm kommt wegen Widerstand praktisch zum Erliegen.
  • Indonesien legt Baupläne für erstes kommerzielles AKW auf Eis.
  • Italien hat sich in einer Volksabstimmung zu über 90 %.
  • Japan erwägt den Ausstieg.
  • Kuwait hat seine von der Atomlobby bejubelten und als Zeichen für die Renaissance der Nuklearenergie gewerteten Neubaupläne für gleich vier Werke beerdigt.
  • Lettland, als Mitfinanzier fest eingeplant im Nachbarland Litauen, legte sich Ende Januar 2012 mit einer Parlamentsmehrheit erst einmal quer.
  • Österreich hatte schon früh auf AKW verzichtet und will nun auch den Import von Atomstrom abbauen.
  • Philippinen Das einzige AKW ist nie ans Netz gegangen – und wird jetzt zu Touristenziel.
  • Rumäniens Pläne für neue AKW scheinen nach Firmenrückzug unsicherer denn je.
  • Schweden verzichtet auf Neubauten durch den staatlichen Vattenfall-Konzern.
  • In der Schweiz ist mit dem Aussstiegsbeschluss des Ständerats der Ausstieg (fast) definitiv.
  • Taiwan’s Regierung will schrittweise den Kernenergieanteil an der Stromproduktion reduzieren.
  • Thailand wandte sich nach Fukushima total von Atomplänen ab und intensiviert den Bau von Photovoltaik-Anlagen.

In Europa hat die von der Lobby erträumte „Atom-Renaissance“ gnadenlos versagt: im finnischen Olkiluoto steigen die Kosten für den Bau des ersten „Europäischen Druckwasserreaktors“ immer weiter und der Termin für eine mögliche Inbetriebnahme wird immer wieder nach hinten korrigiert. Von weiteren Projekten etwa in Holland wurde sich vor allem wegen des finanziellen Risikos verabschiedet.

„Zusammenfassend kann diese aktuelle Studie der IEAO nur als ‚Relaitätsverlust‘ beschrieben werden“, so Jan Becker von contrAtom. „Atomkraft ist weltweit auf dem absteigenden Ast, daran gibt es nichts schönzureden.“

  • Statusbericht: Die meisten AKW-Neubauprojekte wurden storniert, verschoben oder annulliert
    8. Juli 2012 – Die Atomkatastrophe von Fukushima hat die Situation der Atomindustrie weltweit dramatisch verändert: in zahlreichen Ländern werden Reaktoren stillgelegt und AKW-Projekte aufgegeben, schreibt Energieexperte Mycle Schneider im “World Nuclear Industry Status Report 2012?. Die Branche leidet aber nicht nur unter dem GAU, sondern auch unter der globalen Wirtschaftskrise, der Konkurrenz anderer Energiequellen, vornehmlich Gas und Erneuerbare, und eigenen Planungs- und Managementproblemen. Kurz: Die Atomenergie befindet sich im Niedergang – und Neubauten rechnen sich nicht mehr.
  • USA: Auch keine nukleare Renaissance
    21. August 2012 – Die US-Nuklearindustrie hatte fest damit gerechnet, in den nächsten Jahren auch im eigenen Land wieder Atomkraftwerke bauen zu können. Doch auch in dem Land mit den meisten Reaktoren schreitet die “atomare Renaissance” nur im Schneckentempo voran. Der Grund ist billiges Gas, was Strom aus AKWs unrentabel machen lässt, nicht etwa das Zweifeln an der Sicherheit.

Quellen (Auszug): worldnuclearreport.org, greenpeace.de, derstandard.at; 21.08.2012; ABC der Ausstiegswilligen: http://atominfomedia.blogspot.de; 21.08.2102