Im Stresstest durchgefallen: 12 deutsche Atomkraftwerke mit Sicherheitslücken

„Die Sicherheitskultur muss verbessert werden“: Bei allen zwölf im „Stresstest“ nach Fukushima geprüften deutschen AKW müssen die installierten Warnsysteme nachgebessert werden, fordert der Bericht der EU-Kommission. Zudem seien die Leitlinien für schwere Unfälle nicht umgesetzt. EU-weit schneiden alle 145 Reaktoren schlecht ab.

atomanlagen stilllegen!Über eineinhalb Jahre nach dem Unfall von Fukushima haben EU-Experten „Hunderte von technischen Verbesserungsmaßnahmen“ identifiziert, schreibt die taz. Die Kosten zur Beseitigung der Mängel bezifferte die EU auf 10 bis 24 Milliarden Euro. So stehe es im noch unveröffentlichten Ergebnis des EU-weiten Stresstests für die 134 Reaktoren in der Staatengemeinschaft. In einigen Mitgliedstaaten seien noch nicht einmal die nach der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 international vereinbarten Verbesserungen der nuklearen Sicherheit umgesetzt worden. In vier Reaktoren in Schweden (Forsmark) und Finnland (Olkiluoto) wäre zum Beispiel die Kühlung für maximal eine Stunde lang gesichert, wenn der Strom ausfallen sollte. Dann könnte eine Kernschmelze folgen. Laut derstandart.de seien bei den Tests bisher keine systematischen Unterschiede zwischen Ost- und West-AKWs festgestellt worden. Auch könnte aus den Stresstests nicht mal direkt auf die Sicherheit einer bestimmten Anlage geschlossen werden.

  • Trotzdem sind die ersten Ergebnisse vernichtend: In allen deutschen AKW fehlt es an geeigneten Seismographen für Erdbewegungen, zudem seien die Richtlinien bei Unglücksfällen nicht vollständig. Die Meiler Grohnde, Isar, Brokdorf und Grafenrheinfeld böten nicht genug Schutz bei Erdbeben.
  • Die Meiler Brokdorf, Brunsbüttel, Emsland, Grohnde, Unterweser und Krümmel verfügen auf ihrem Gelände über keine gesonderten Messstationen, die Erdstöße kontrollieren.

Die Richtlinien für den Unglücksfall müssten in den Mitgliedsländern „so schnell wie möglich“ überarbeitet werden, fordert die Kommission. Bisher bezog sich der Stresstest vor allem auf Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Überschwemmungen. Die Risiken bei Flugzeugabstürzen sind in dem Bericht noch nichteinmal enthalten. Materialabnutzung wichtiger Teile wurden nicht untersucht. Auch die Gefahren von Terrorismus und Kriminalität werden im Rahmen der Übung nur kurz beleuchtet.

Besonders die Anlagen in Frankreich kommen laut taz.de schlecht weg: Im Januar mahnte die französische Behörde für nukleare Sicherheit an, dass mindestens 10 Milliarden Euro investiert in die Sicherheit investiert werden müssten. Ein erstes „Opfer“ gibt es bereits: die beiden ältesten Blöcke des Landes in Fessenheim sollen 2016 für immer vom Netz.

Greenpeace-Atomexperte Tobias Münchmeyer spricht von einem „Fanal für einen ganz-europäischen Atomausstieg“: Würde sich bestätigen, dass Warnsysteme unzureichend sind und die Umsetzung von Leitlinien für schwere Unfälle mangelhaft ist, müssten die betreffenden Reaktoren sofort heruntergefahren werden. Möglicherweise ist der Restbetrieb der neun deutschen Atomkraftwerke sogar „nicht mehr wirtschaftlich“, so Münchmeyer. Denn Nachrüstungen, die mehr sind als Kosmetik, sind sehr teuer.

„Der oberflächliche EU-Stresstest kann nur der Auftakt sein für eine tiefer gehende Analyse unter Hinzuziehung externer Experten“, fordert Greenpeace-Experte Münchmeyer.

Das Bundesumweltministerium sieht allerdings keine „schweren Sicherheitslücken“ bei deutschen Atomkraftwerken. Der Sprecher von Minister Peter Altmaier (CDU) betonte am Montag in Berlin, bei den bisher bekannten Stresstests habe es für die deutschen AKW „keine Beanstandungen“ etwa bei Kühlwasser, Stromversorgung und Notfallmaßnahmen gegeben. Auch die Erdbebensicherheit sei „bisher nicht beanstandet worden“.

Die Ergebnisse des EU-Stresstestes seien ein Weckruf, meint Jochen Stay, Sprecher der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt:

„Der sogenannte ‚Ausstiegs‘-Beschluss des Bundestages vom Sommer 2011 hat nicht dazu geführt, die Risiken der Atomkraft-Nutzung in Deutschland zu beenden. Neun gefährliche Reaktoren dürfen noch lange Jahre weiterlaufen, die meisten bis 2022.“

Bereits im vergangenen Jahr hätte die Reaktorsicherheitskommission des Bundes festgestellt, dass keines der noch neun laufenden Atomkraftwerke in Deutschland wirklich sicher ist, so Stay. Gegen den Absturz eines großen Verkehrsflugzeugs sei keine Anlage ausgelegt. Es gibt Mängel beim Hochwasserschutz, der Erdbebensicherheit und beim Störfallmanagement. Keines dieser Probleme ist seither behoben worden – „doch die Reaktoren laufen trotz dieser Risiken weiter“.

„Der Stresstest hat schon nach einer oberflächlichen und wenig kritischen Analyse deutliche Sicherheitsdefizite in Europas Atomkraftwerken sichtbar gemacht“, so Hubert Weiger, BUND-Vorsitzender. „Die Summe von bis zu 25 Milliarden Euro, die zu deren Beseitigung notwendig wäre, zeigt, dass es auch ökonomisch unsinnig ist, Atomkraftwerke am Netz zu lassen. Stattdessen muss der schnelle Atomausstieg wieder das Hauptziel der Energiewende werden.“

Atomkraftwerke umfangreich baulich nachzurüsten sei keine erfolgsversprechende Option, so Weiger. Nachrüstungen der Atomkraftwerke seien teuer und ihr Effekt auf die Sicherheit fragwürdig. Echte Sicherheit könne nur die Abschaltung eines AKW bringen.

Laut derstandart.at sollen die Atomaufsichten der betroffenen EU-Staaten bis Jahresende konkrete Aktionspläne zur Umsetzung zusätzlicher Sicherheitsmaßnahmen vorlegen. Auf dieses Vorgehen hätten sich Experten der europäischen Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) bereits im Sommer geeinigt. Die nationalen Aktionspläne sollen dann wieder von europäischen Experten einer gemeinsamen Bewertung unterzogen werden. Nur so könne am Ende ein konkreter Investitionsbedarf abgeschätzt werden.

Die EU-Kommission will die Ergebnisse zu den europaweiten Stresstests bei Atomkraftwerken eigentlich erst am morgigen Mittwoch veröffentlichen und dann dem nächsten EU-Gipfel am 18./19. Oktober vorlegen. Rechtlich sind die Empfehlungen für die EU-Staaten nicht bindend.

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Quellen (Auszug): taz.de, dpa, derstandard.at, welt.de, ausgestrahlt.de, bund.de; 01./02.10.2012