Rückbau des AKW Stade: Unerwartete Strahlung & Bauschutt den niemand will
Nicht nur die Entsorgung von radioaktiven Bauschutt aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Stade bereiten dem Betreiber EON zur Zeit Probleme. Im Reaktorbehälter sind verstrahlte Bereiche gefunden worden, die den Rückbau verzögern werden. Bis zu vier Jahre könnte u.a. die Installation spezieller Technik dauern, meint Niedersachsens Umweltminister Wenzel. Atomkraftgegner kritisieren neben der Entsorgungspraxis die Informationspolitik der Behörde.
Im sächsischen Grumbach gingen am Samstag 1.500 Menschen auf die Straße, um gegen die Anlieferung von Bauschutt aus dem niedersächsichen AKW Stade zu protestieren. Die dortige Sondermülldeponie hatte sich bereit erklärt, 700 Tonnen „freigemessenen“ Müll aufzunehmen. Geplant waren 2.000 Tonnen. Der erste Lastwagen brachte am vergangenen Dienstag die erste Fuhre, mit einer Strahlendosis die zehn Mikrosievert pro Jahr nicht überschreite – so die sächsischen Umweltbehörde. Alles ungefährlich.
Doch die Menschen vor Ort fühlen sich getäuscht und fordern „Kein Atommüll neben unseren Gärten“, hatten die Behörden vor wenigen Jahren erst versprochen, künftig „die Deponie mit weniger gefährlichen Stoffen zu füllen“. Die Aktivisten errichteten aus Protest gegenüber der Betriebseinfahrt ein großes Holzkreuz als „Zeichen unserer Ängste, unserer Sorgen und unseres Schmerzes“, so Pfarrer Volker Geisler.
Doch neben der Tatsache, dass niemand diesen Rückbaumüll haben will, sind im AKW Stade neue Probleme aufgetaucht: Im Sockelbereich des Reaktorgebäudes wurde radioaktiv kontaminierte Kondensnässe nachgewiesen, die aus Lecks im Primärwasserkreislauf während des Betrieb stammt. Im Bodenbereich seien Werte von bis zu 164.000 Becquerel pro Kilogramm gemessen worden. Nun müssten die Rückbauarbeiten neuorganisiert werden, EON habe ein neues Konzept vorgelegt. Das Umweltministerium in Hannover rechnet damit, dass der Abbau nicht wie geplant bis Ende 2014 erfolgen kann, sondern drei oder vier Jahre länger dauern wird. Die Kenntnis über die zusätzliche – und nicht erwartete – Kontamination liegt der Behörde allerdings seit Anfang Februar vor. Die Öffentlichkeit erfährt erst jetzt davon.
Im AKW sollen nun zunächst die auf den betroffenen Bereich aufbauenden Gebäudestrukturen abgetragen werden. Dabei soll ein neuer Kran im Sicherheitsbehälter eingebracht werden, um die nach der Grobdekontamination ausgesägten Blöcke (circa 20 Tonnen schwer) aus dem Sicherheitsbehälter auszuschleusen.
Miriam Staudte, atompolitische Sprecherin der niedersächsischen Grünen, fordert Konsequenzen:
„Erst Jahre nach der Stilllegung während der Abrissarbeiten des AKW Stade wird eine Strahlenbelastung des Betonsockels bekannt. Es muss geklärt werden, wie es zu dieser unsachgemäßen Verstrahlung kommen konnte. Darüber hinaus muss bundesweit geprüft werden, ob auch bei anderen AKWs derartige Zwischenfälle unerkannt geblieben sind und ob Konsequenzen für noch laufende AKWs abgeleitet werden müssen, um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Verzögerungen beim Rückbau zeigen, dass immer wieder unerwartete Ereignisse eintreten können, die zu Kostensteigerungen führen. Die AKW-Betreiber müssen verpflichtet werden, die Kostenkalkulationen offenzulegen. Kostensteigerungen müssen von den Betreibern getragen werden.“
Atomkraftgegner kritisieren außerdem die Praxis des „Freimessens“, das eine Deponierung des radioaktiven Bauschutts erst ermöglicht. Im AKW werde der Müll so lange vermischt, bis Grenzwerte unterschritten werden. Doch Strahlung lässt sich nicht wegputzen – und das Risiko durch künstliche, radioaktive Niedrigstrahlung ist unter Fachleuten weltweit strittig. Immer wieder wird eine Neubewertung des Risikos und eine Korrektur der Grenzwerte gefordert.
Außerdem ist die Informationspolitik von Aufsichtsbehörde und Betreiber zu hinterfragen:
„Wenn bundesweit gerade ‚Vertrauen‘ in der Atommüllfrage gesucht und ‚Transparenz‘ versprochen wird, darf gerade eine grün-geführte Behörde in Niedersachsen der Öffentlichkeit solche brisanten Informationen wie den jahrelangen Austritt von radioaktivem Primär-Kühlwasser nicht monatelang vorenthalten“, fordert Jan Becker von contrAtom.
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Quellen (Auszug): kreiszeitung-wochenblatt.de, wendland-net.de, umwelt.niedersachsen.de, sz-online.de, bundesumweltportal.de; 9./10./12./15./16.9.2014