Katastrophenschutz: „5 stillgelegte AKW sind sicherer als 55 Mio. Jodtabletten“
Vergangene Woche hat in der Schweiz die Verteilung von Jod-Tabletten an Millionen Anwohner von Atomkraftwerken begonnen. Die Massnahme wurde zur Anpassung der Katastrophenschutzmassnahmen nach dem GAU von Fukushima angeordnet. Auch in Deutschland setzen die Behörden auf diese weitgehend wirkungslose Vorsorge gegen schwere Reaktorunfälle. Atomkraftgegner fordern umfassenden Schutz: die Stilllegung der AKW.
4.6 Millionen Menschen die in der Nähe eines der fünf schweizer Atomkraftwerke wohnen bekommen jeweils zwölf Jodtabletten. Diese sollen bei einem schweren Reaktorunfall mit Austritt von Radioaktivität die Menschen vor der Aufnahme von Jod-131, das in der Schilddrüse eingelagert wird, schützen. Dafür muss die Tablette aber rechtzeitig vor dem Einatmen der Partikel eingenommen werden – sonst ist die „Jodblockade“ wirkungslos.
„Die Jodtabletten helfen ausschliesslich gegen das gefährliche Isotop Jod-131 und damit nur gegen Schilddrüsenkrebs“, sagt Florian Kasser, Atomexperte von Greenpeace Schweiz. „Zusätzlich gibt es aber bei einem Atomunfall noch zahlreiche weitere gesundheitsgefährdende Stoffe, die freigesetzt werden“.
Darüber würden die Behörden ungern sprechen. Bei der Jodvorsorge handele es sich also lediglich „um einen Tropfen auf den heissen Stein“. Auf die Folgen eines Atomunfalls weiss der Katastrophenschutz bis heute keine Antwort, meint Greenpeace: Vollschutz bietet nur die Ausschaltung des Gefahrenherds – der AKW. Auch würden die Menschen in den Einzugsgebieten der deutschen und französischen Atomkraftwerke nicht bedacht: Das sei „absurd, denn die Gefahren der Schweizer Altreaktoren und die schnelle Ausbreitung der radioaktiven Wolke nach einem Atomunfall machen nicht an diesen willkürlichen Verwaltungsgrenzen halt“, so Kasser.
Auch in Deutschland setzen die Katastrophenschutzbehörden auf die „Jodblockade“ als Vorsorge gegen den Super-GAU. Von zentralen Lagern aus soll nach dem Beginn einer Reaktorkatastrophe eine Verteilung an die Bevölkerung vorgenommen werden. Derzeit wird – auch also Massnahme nach Fukushima – eine Ausweitung der Vorsorgebereiche um die Meiler diskutiert. Die Strahlenschutzkommission (SSK) empfahl bereits im Juni die Vergrößerung der sog. „Außenzone“, in der die Menschen Jodtabletten erhalten, von 50 auf 100 km um den jeweiligen Reaktor. In der sog. „Mittelzone“, die der Empfehlung nach von 10 auf 20km vergrößert werden solle, würden die Menschen innerhalb von 24 Stunden evakuiert. Doch in den Zonen leben hundertausende Menschen. Damit würden die ausführenden Behörden „hoffnungslos überfordert sein“, attestiert der IPPNW. Die von der SSK neu empfohlenen Evakuierungsradien seien allerdings immer noch zu klein angelegt. Das Bundesamt für Strahlenschutz empfiehlt Zonen von 100–170 km, das Öko-Institut sogar Zonen mit 50 km Breite und 600 km Länge.
Wesentlich in dieser Debatte ist allerdings der sog. Eingreifsrichtwert, also die Höhe der Strahlung in einem bestimmten Gebiet. Die SSK empfahl im Juni die Evakuierung und Zwangsumsiedlung ab einer Belastung von 100 Millisievert (mSv) innerhalb von 7 Tagen. Diese Werte seien viel zu hoch, so der IPPNW. Im Vergleich seien die Menschen in Fukushima bei 20mSv, die um den Unglücksmeiler von Tschernobyl bei 10mSv evakuiert worden.
„Damit werden im Gegensatz zu Japan und der Ukraine zigtausende Strahlenopfer mehr in Kauf genommen“, so die ehemalige Vorsitzende der IPPNW, Dr. med. Angelika Claußen im Juni. Für die Ärzteorgansation sind die Empfehlungen „nichts als ein Papiertiger“.
Atomkraftgegner fordern angesicht der Schweizer Debatte, die Katastrophenschutz-Radien um die Atomanlagen in Deutschland erheblich zu vergrößern, so dass die Vorsorge gegen schwere Atomunfälle umfassender ausfällt.
„Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima haben gezeigt, dass noch hunderte Kilometer vom Meiler entfernt Menschen durch radioaktiven Fallout betroffen sein können“, so Jan Becker von contrAtom. „Außerdem müssen die Grenzwerte, die der Katastrophenschutzplanung zugrunde liegen, nach unten korrigiert werden – so wie es Experten empfehlen. In dem Zuge würde unweigerlich deutlich werden, dass beispielsweise theoretisch geplante Evakuierungen von Großstädten praktisch nicht möglich sind. Und ohne umfassenden Schutz der Bevölkerung gegen durchaus mögliche Unfälle ist der Weiterbetrieb der Atomkraftwerke nicht zu verantworten.“
- IPPNW: Neue Katastrophenschutzempfehlungen – Scheinbare Sicherheit, nur auf dem Papier
11. Juni 2014 – Die Ärzteorganisation IPPNW kritisiert die von der Strahlenschutzkommission (SSK) vorgelegten neuen Katastrophenschutzrichtlinien, die bei der heute beginnenden Innenministerkonferenz in Bonn beschlossen werden sollen. „Die Ausweitung der Evakuierungszone innerhalb von 24 Std. von 10 auf 20 Kilometer greift aus strahlenmedizinischer Sicht viel zu kurz“, so die ehemalige Vorsitzende der IPPNW, Dr. med. Angelika Claußen. Für die Ärzteorgansation sind die Empfehlungen nichts als ein Papiertiger.
- Deutschland ist nicht auf Atomunfälle vorbereitet
6. März 2014 – Deutschland ist auch drei Jahre nach dem Beginn der Katastrophe von Fukushima nicht ausreichend auf einen Atomunfall vorbereitet. Auch die Expertenkommission für Katastrophenschutz des Bundesinnenministeriums (BMI) gibt diese Tatsache zu. Atomkraftgegner fordern umgehend Konsequenzen.
Quelle (Auszug): greenpeace.org/switzerland, 15.10.2014